
Illustration: Foto
Um es vorweg zu schicken, ich lese heute eher weniger als mehr Kritiken. Früher brauchte ich zu jedem Film, Buch oder Künstler eine Kritik. Ein paar Kritiken habe ich auch selbst verfasst, für Zeitungen und Blogs. Als ich immer häufiger feststellte, dass Kritiken, die ich las, nicht meiner eigenen Wahrnehmung entsprachen oder mir ungerecht vorkamen, nahm mein Interesse langsam ab. Ein paar Kritiker verärgerten mich sogar, wobei ich deftige Kritiken durchaus zu schätzen weiß, wenn sie humorvoll sind und einen Kern treffen.
Tendenziell machen viele Kritiker ähnliche Fehler. Typisch ist es, das Werk mit dem Schöpfer gleichzusetzen. Diesen Fehler macht fast jeder Kritiker hin und wieder. Dann wird alles zu einer Frage der Moral und der richtigen Gesinnung. Es ist ein bisschen so, als würde man das Foto mit der Wirklichkeit gleichsetzen. Dieser Ansatz ist sehr alt. Er greift tief in die Sittengeschichte zurück und entspricht der Auffassung, dass bereits die Darstellung des moralisch Fragwürdigen anstößig ist. Anstößig ist nur die Realität.
Mir stellt sich dann immer die Frage, ob der Kritiker denkt, der Zuschauer würde Schaden nehmen und müsse beschützt werden. Das mag für bestimmte Altersgruppen zutreffen. Allerdings ist es eine Frage, die allein den Einzelnen betrifft. Der Leser, Hörer oder Zuschauer muss schließlich selbst wissen, wie viel und was er verträgt, selbst wenn er einen schlechten Geschmack hat.
Insofern liegt es in seiner Verantwortung, was er unterhaltsam, lehrreich oder kurzweilig findet. Im Übrigen reizen Denkverbote eher zum Widerspruch. Viele Kritiker betreiben das Geschäft ihrer Gegner, wenn sie dem Künstler eine Tendenz unterstellen, weil sie ein Thema unangemessen behandelt sehen oder als falsch empfinden. Sie wecken Interesse, statt abzuschrecken. Sie sollten dem Leser ein Urteil zutrauen.
Ein weiterer Fehler der Kritik ist die Tendenz, die Aussage eines Films, eines Buches oder einer Musik zu stark zu verallgemeinern. Oft ist das der Fall, wenn es um historische, politische oder gesellschaftliche Themen geht. Auch hier geht es vorgeblich um die richtige bzw. falsche Moral. Es sollte aber klar sein, dass eine Verallgemeinerung oder Verabsolutierung einer Handlung oder einer Darstellung immer eine Unterstellung ist, die vom Kritiker ausgeht.
Es ist nahe liegend und deutlich, dass menschliche Handlungen an die handelnden Personen gebunden sind, auch dann, wenn sie exemplarisch für eine bestimmte Gruppe stehen. Die Allgemeingültigkeit einer Darstellung kann folglich nicht mit den Handlungen oder Aussagen von Einzelnen gleichgesetzt werden. Sonst wird eine Tendenz unterstellt, die an den Absichten der Macher meist vorbeigeht. So ist z. B. die Darstellung von Gewalt in der Kunst kein Aufruf zur Gewalt.
Der häufigste Fehler ist das Geschmacksurteil. Was dem Kritiker nicht gefällt, kann auch nicht gut sein. Er fühlt sich dazu berufen, ein Kunstwerk zu begutachten, wie Walter Benjamin das formulierte. Bildlich ausgedrückt schüttelt der Kritiker einfach solange den Kopf, bis in seiner Suppe Haare liegen. Oder er drückt eine Wertschätzung aus, die lächerlich ist, weil sie dem Werk nicht gerecht wird. Zum Beispiel lobt er das Material. Diese Art von Kritik findet man häufig bei Autoren mit mangelndem Sachverstand. Wer häufig Kritiken liest, zweifelt manchmal zurecht daran, ob der Kritiker verstanden hat, was er kritisiert. Manchmal ist Kritik einfach ein Zeichen von Ignoranz. Ignoranz ist zulässig, sollte aber nicht als besseres Verständnis ausgegeben werden.
Viele Kritiker kritisieren aus taktischen Gründen. Das ist verständlich. Zum einen gibt es eine Kunstszene, in der sich Kritiker bewegen. Zum anderen stecken auch hinter ästhetischen Werken wirtschaftliche Interessen, die man nicht einfach ignorieren kann. Kritik ist immer auch Politik. Wenn sich Kritik an den tatsächlichen Qualitäten eines Mediums orientiert, ist taktisches Lob zulässig. Als Leser oder Zuschauer muss man vorsichtig sein, sollte aber eine taktische Kritik nur dann verübeln, wenn es sich um einen ungerechtfertigten Verriss oder ein übertriebenes Lob handelt. Ansonsten muss man in Kauf nehmen, dass jeder Autor auch redaktionelle und politische Interessen verfolgt, was für Leser mit Erfahrung eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte.
Manchmal hängen Kritiker ein Kunstwerk auch zu hoch. Das ist heute eher selten der Fall, denn wenn der Untergang des Abendlandes beschworen wird, gilt das meist als peinlich. Kritiker, die mit zu großer Strenge zur Sache gehen, irritieren meist. Nicht jeder Film, jedes Buch oder jedes Musikwerk ist es wert, verrissen zu werden. Provokation ist längst Teil des Geschäfts. Insofern ist es oft klüger, ein misslungenes Stück als nicht beachtenswert einzuordnen, als Leser damit zu behelligen oder es zu skandalisieren. Nicht jedes mediale Erzeugnis ist kritikwürdig.
Ob eine Kritik hilfreich ist, muss der Leser selbst entscheiden. Ich muss mich nicht ärgern müssen, soll heißen, ich empfinde konstruktive und verständnisvolle Kritik als hilfreich. Da Kunstwerke vom Umtausch ausgeschlossen sind, fallen mir eher schlechte Kritiker auf, weil ich oft überrascht bin, wie sehr eine Meinung von meinem Erleben abweicht. Gute Kritiken sind eine Bereicherung und vermitteln. Sie wecken Interesse und fordern dazu auf, ein Medium mit anderen Augen zu sehen. Das kann auch bei Verrissen der Fall sein. Sie erweitern den Horizont. Leider werden gute Kritiken umso rarer, je mehr der Leser weiß. – Immerhin kann man seine Zeit auch mit anderen Dingen verbringen.