Meinen Kindern würde ich diese Bücher nicht zu lesen geben. – Ich gebe zu, dass ich keine Kinder habe, vielleicht auch deshalb, weil ich nie vorhatte, ihnen die Abenteuer meiner Kindheit zuzumuten. Wie denn auch? Wo soviel korrekte und wohlmeinende Pädagogik und so viele therapeutische Angebote vorherrschen, ist jede Literatur fragwürdig. Wozu sollte ich Kinder haben, wenn ich fürchten müsste, dass sie therapiert werden, weil sie ebenso wild sind wie ich?
Grimms Märchen und die Abenteuer von Odysseus standen in meinem Kinderzimmer. Kaum auszudenken, welchen Schaden solche Geschichten heute anrichten könnten. Jules Vernes Romane gehörten ebenso zu meiner Lektüre wie die blutigen Indianergeschichten von J. F. Cooper. Neben den Sagen des klassischen Altertums und den Abenteuerromanen, gab es auch Gespenster- und Geistergeschichten in meinem Bücherschrank. Nicht auszudenken. Und da mein Vater ein trinkfester Landarzt war, erfuhr ich schon als Halbwüchsiger, dass es schlimme Dinge gibt, bevor ich einen eigenen Fernseher hatte.
Schon auf der Grundschule war ich berüchtigt und beliebt, weil ich den Mädchen frei davon erzählte, wie sich Mann und Frau paaren, bevor unsere Lehrer überhaupt damit anfingen, vom Bienchen und dem Blümchen zu erzählen. Da ich ihnen auch zeigte, was ein richtiger Zungenkuss ist, erfuhren sie durch mich, wie Liebe geht. Schon mit vierzehn wusste ich, wie man Tabak zu Zigaretten dreht und konnte sogar Unterschriften fälschen. Mein Vater hat sich nie für schlechte Noten interessiert.
In die Geheimnisse der körperlichen Liebe hat mich eine ältere Nachbarin eingeweiht, deren Mann beruflich so strapaziert war, dass er sich nicht mehr um seine Frau kümmern konnte. Dank ihrer Hilfe, konnte ich meiner ersten Freundin zeigen wie die man sich liebt. Meine Mutter war entsetzt, als sie uns dabei ertappt hat. Sie hat sich abgewendet und meiner Freundin eine warme Suppe hingestellt, als sie ihre Klamotten wieder anhatte und ins Esszimmer kam.
Ich gebe zu, aus mir ist nicht viel geworden. Aber manchmal frage ich mich, wohin die Erziehung, die ich nie hatte, heute eigentlich führen soll. Natürlich sind diese Erfahrungen nicht ganz spurlos geblieben. Aber nachdem ich gehört habe, dass mein Direktor aus Stalingrad rauskam und die Gefangenschaft überstanden hat, erschien mir meine wilde Kindheit nicht mehr sonderlich traumatisch. Die Geschichten meiner Eltern und Lehrer waren zweifellos abenteuerlicher als alle meine Romane. Mir kommt es so vor, als gibt es heute keine Abenteuer mehr, sondern nur noch Moral, Therapien und Straftaten. – Allerding war meine Erziehung überschattet von der Idee einer untilgbaren Schuld.
Die Kindheit heute ist beschützt und durchorganisiert. Dennoch habe ich den Eindruck, dass diese gut beschützten und wohlerzogenen Kinder kleine Intriganten sind, die von ihren Lehrern nichts anderes lernen, als andere moralisch zu blamieren. Da ich heute gegen die fünfzig gehe, muss ich leider feststellen, dass sich auch liberale Journalisten in seriösen Blättern wie Inquisitoren gebärden. Es gibt ein zunehmende und verletzende Brutalität der Meinung ohne jedes Verständnis für die Betroffenen.
Ich bin nicht sicher, ob mich die Literatur meiner Kindheit auf den richtigen Weg geführt hat. Sie war aber ein Abenteuer, das mich gelehrt hat, andere Menschen zu respektieren, sei es nur deshalb, weil sie ein Gewehr haben oder eine eigene Geschichte. Wenn ich heute Kommentare lese oder Kolumnen, kommt es mir so vor, als hätten diese Meinungsmacher vergessen, was eine Biografie ist.
Meine Erziehung und meine Literatur hat mich alles gelehrt, aber sicher nicht auf andere herabzublicken oder Menschen zu verurteilen, obwohl es in meinen Geschichten um Nymphen, Geister und Wilde ging. Dabei ging es nie um Gesinnung. Es ging immer darum, sich einig zu werden, gastfreundlich zu sein und dem anderen sein Recht zu lassen oder zu kämpfen.
Heute koche ich lieber, als andere zu verurteilen. Natürlich gibt es Menschen, die meine Geduld strapazieren. Zu meiner eigenen Überraschung liegt das aber nicht an ihrer Gesinnung, sondern eher an ihrer strapaziösen Art. Menschen, die ich nicht mag, vertreten ihre Haltung wie Redakteure großer Zeitungen. Ihre Kommentare unterscheiden sich kaum von den giftigen Kommentaren der Leser.
Die schlimmen Bücher meiner Kindheit und mein trinkfester Vater haben meinen Horizont früh geweitet. Ich war ein wildes Kind. Das einzige, was ich gerne vermisst habe in meinen Abenteuerromanen und in meiner Erziehung waren Inquisitoren. Die soll es ja auch schon zu meiner Zeit gegeben haben. – Ein väterlicher Freund hat mir einst erzählt, wie er seinen eigenen Lehrer verprügelt hat. Diese Prügelei hat ihm den Therapeuten erspart. Er wurde ein anständiger Mann, Handwerker und Vater.
Ich gebe zu, ich bin in wilden Zeiten groß geworden. Heute muss ich sagen, dass mich die aktuelle moralische Selbstgewissheit der Menschen ankotzt und mir Kinder oft ungeheuer schüchtern vorkommen.
Meine Kindheit war zweifellos ein Abenteuer. Die heutige Kindheit scheint nichts weiter zu sein als mediale Überfrachtung und selbstgerechte Moral übereifriger Pädagogen; ohne die Erfahrung der Natur und ohne jedes Abenteuer, das den öden Charme eine Computerspiels übersteigt. Und so lesen sich dann auch die Texte, die heute veröffentlicht werden: Öde, leer und unglaubwürdig. – Ich vermisse das abenteuerliche Herz.